Roman Grabner, 2011

 

Jede Arbeit ein Gedanke zum Raum

 

Raum zu denken, bedeutet nicht, sich eines bestimmten Raumes zu besinnen, sondern sich der konstituierenden Parameter der Raumkonstruktion gewahr zu werden und neue Interaktionen zwischen Menschen und Objekten zu suchen. Spätestens seit dem „spatial turn“ wird Raum nicht mehr länger als neutrales Gefäß oder Territorium aufgefasst, sondern als prozessual im Handeln hergestellt verstanden.

 

Der Handlungsraum

„Der zu-gedachte Raum“ von Anna-Maria Bogner umschreibt eine fast 10m lange, nur 70cm breite Rauminstallation, deren Höhe sich nach hinten hin von 200cm auf 160cm verjüngt. Dieser Korridor wird jedoch gegen Ende hin nicht nur niedriger, sondern auch dunkler. Fein nuancierte Graduierungen von Weiß und eine dimmbare Lichtanlage führen den Betrachter nicht auf das Licht am Ende eines Tunnels hin, sondern in die Enge einer Dämmerung.

Die Abschlussarbeit von Anna-Maria Bogner an der Akademie der bildenden Künste in Wien, die ursprünglich keinen Titel tragen sollte, war für den Betrachter mit den Auflagen verbunden, nur einzeln einzutreten und die Schuhe auszuziehen und diese mitzunehmen. Die Erlebnisparameter für die Begegnung mit zeitgenössischer Kunst geben normalerweise vor, dass, wann immer man sich für raumgreifende Installationen die Schuhe ausziehen muss, diese auch vor der Installation verbleiben müssen. Das Ausziehen der Schuhe korreliert mit gesellschaftlich konditioniertem Verhalten und indiziert eine Reinheit des Werkes, die nicht beschmutzt werden darf und eine Respektsbekundung, die an die Ehrfurcht beim Betreten von Sakralräumen gemahnt. Die Aufforderung zum Mitnehmen der Fußbekleidung hingegen schwächt diese sozialen Konditionierungen ab und drängt dem Betretenden zugleich die Frage des Wozu auf. Wozu die Schuhe ausziehen und dann mitnehmen? Wozu den Raum überhaupt betreten?

Es ist die Neugierde, die den Betrachter in diese Raumflucht eintreten lässt und deren gesteigerte Aufmerksamkeit die Erwartungshaltungen mit Gefühlen der Beklemmung und Verunsicherung kollidieren lässt. Im Korridor selbst passiert nichts. Man wird zurückgeworfen auf sich selbst und den umgebenden, einengenden Raum, der sukzessive niedriger und dunkler wird. Und schlussendlich steht man vor einer Wand, die ein Weitergehen verunmöglicht. Was tun? Geht man zurück ins Licht, zum Anfang der Passage, oder traut man sich, seinen Körper gegen die beengenden Raumgrenzen zu stemmen? Die Schuhe fungieren hier als Indiz, dass ein anderer Ausweg möglich scheint. Überwindet man die Scheu vor den respektvollen Raumgrenzen und getraut man sich, sich gegen die Wand am Ende des Tunnels aufzulehnen, so öffnet man eine Klappe und findet einen alternativen Ausweg. Darum die Schuhe.

„Der zu-gedachte Raum“ muss nicht „zu“ sein, sondern hält einen Fluchtweg parat, der ihn auch als offen denken lässt. Es liegt beim Betrachter, diesen Raum zu Ende zu denken. Die Bedeutung liegt nicht im Werk selbst, sondern in seinen „kommunikativen Strukturen“.[1]

Man denkt bei dieser Arbeit unwillkürlich an die Korridore von Bruce Nauman, die dieser in den 1970er Jahren angefertigt hat. Zur besseren Differenzierung sei an dieser Stelle nochmals an die Genese dieser architektonischen Objekte aus Naumans Performances heraus erinnert. Seinen ersten Korridor, den „Performance Corridor“, hat Nauman ursprünglich 1968 als Bühne für den Film „Walk with a Contrapposto“ gebaut. 60 Minuten lang geht er darin mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf und ab und versucht dabei beharrlich, die klassische Renaissance-Haltung des Kontraposts einzuhalten. Die Komik dieses Gangs kippt mit Fortdauer des monotonen Gehens, dem permanenten Anstoßen seiner Ellbogen an den Seitenwänden in dem nur 50cm breiten Korridor und mit der Unbeirrbarkeit des Protagonisten in seinem Tun in eine Stimmung des Unbehagens und diffuser Ahnung von externer Kontrolle und Gefangensein.

1969 hat Nauman diesen aus Brettern und Latten roh gezimmerten Korridor in der legendären Ausstellung „Anti-Illusion: Procedures/Materials“ im Whitney Museum für das Publikum zugänglich gemacht. Seine Intention war es, dem Betrachter ähnliche Erfahrungen zu ermöglichen, die zuvor ihm selbst vorbehalten waren. Nauman überlässt dem Betrachter jedoch keineswegs den freien Umgang mit seinem Werk, sondern unterwirft ihn einer rigiden Kontrolle. Obwohl seine Environments auf den Betrachter hin konzipiert sind und im Sinne Umberto Ecos erst durch dessen Anwesenheit Sinn erhalten, gesteht Nauman den Beteiligten weder Entscheidungsmöglichkeit noch Mitbestimmung zu.[2] Um es mit einer Wendung Ecos zum Ausdruck zu bringen: „Ehe es ein Feld von zu treffenden Wahlen wird, ist es schon ein Feld getroffener Wahlen.“[3]

Im Gegensatz zu Nauman, der Möglichkeiten eröffnet, nur, um sie wieder einzuschränken, spannt Bogner ein Möglichkeitsfeld auf, in dem der Betrachter individuell-unabhängige Erfahrungen machen kann und ein ihm eigenes Erleben seiner Selbst in einer spezifischen Raumsituation finden kann. Dies manifestiert sich auch in der Breite der Korridore, die bei Nauman in der Regel sehr schmal sind und zwischen 30,5 und 50,8cm divergieren, wohingegen Bogner mit 70cm das Ö-Norm Standardmaß für Durchgangsbreiten gewählt hat. Sie verknüpft Ihren Erfahrungsraum dadurch mit den Sozialräumen unseres Alltags und legt es nicht auf existenzielle Ausnahmesituationen im Nauman’schen Sinne an. Eine nicht enden wollende Passage führt in das Zwielicht räumlicher Strukturen als Ordnungseinheiten unserer Gesellschaft und evoziert die Frage nach der Konstruktion von soziopolitischen Räumen.

Die deutsche Soziologin Martina Löw hat in ihrem 2000 veröffentlichten Buch „Raumsoziologie“[4] gezeigt, dass die Entstehung des Raumes ein soziales Phänomen ist, das von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängt. Raum wird in ihrem Ansatz keine eigene Realität zugestanden, sondern Raum konstituiert sich im Handeln von Individuen. Gleichzeitig wird deren Handeln von Räumen strukturiert, seien sie ökonomischer, rechtlicher, sozialer oder kultureller Natur. Das heißt, Räume können Handlungen sowohl begrenzen als auch ermöglichen.

Dieses dynamische Gebilde, das sie als Raum auffasst, ist jedoch nicht beliebig platzierbar, sondern konkret lokalisiert. Um etwas platzieren zu können muss es Orte geben, gleichzeitig werden Orte durch Platzierungen erst kenntlich gemacht.[5] Hier setzt die Kunst Anna-Maria Bogners ein. Nicht, dass sie im großen Stil „(An)Ordnungen“ von Lebewesen und sozialen Gütern vornehmen würde,[6] aber sie platziert raumgreifende Objekte an spezifischen Orten und schafft Versuchsanordnungen, in denen der Betrachter mit dem Ort und der Konstruktion von Raum konfrontiert wird.

Sowohl beim Korridor des „zu-gedachten Raumes“ als auch in ihren Rauminstallation wie „de.re.struct“ oder „Zwischenraum“ hat sie die Diskrepanz zwischen dem physischen Raum des Objektes und dem des Betrachters als eines in Kontemplation versenkten Zuschauers aufgehoben. Der Betrachter ist kein passiver Zuseher, sondern zum mitwirkenden Akteur berufen und damit aus einer Position der Sicherheit in die der Irritation versetzt worden. In diesem Ansatz ähneln sich die Auffassungen von Nauman und Bogner wieder, dass ein Bewusstwerden des Raums und eines selbst nicht primär durch das Nachdenken oder Lesen von Büchern, sondern nur durch physische Aktivitäten mit psychischen Implikationen erfahren wird.

 

Der Zwischenraum

Betrachtet man Anna-Maria Bogners Arbeiten der letzten Jahre, so fällt auf, dass sie auf die eine oder andere Weise alle den Zwischenraum als indifferente Kategorie ins Blickfeld rücken.

In “KOPFFAELLTABRUECKENBRUCHAUFSCHLAG…“ (2006) hat sie einen schmalen Raum im Flakturm im Arenbergpark in Wien mit schwarzen Treibriemen abgeteilt und somit die Rezeption einer Textarbeit auf der dahinter liegenden Wand derart erschwert, dass der Betrachter mehrmals seinen Standort ändern muss, um dem Textfluss folgen zu können, und sich optimalerweise dafür selbst durch die Absperrungen in den Zwischenraum begibt. Der Zwischenraum ist auch jene Leerstelle, die im Text zwischen den einzelnen Worten fehlt und ein kognitives Erfassen beeinträchtigt. In 19 Zeilen wiederholt sich ohne Interpunktion oder Zwischenraum die Buchstabenfolge KOPFFAELLTABRUECKENBRUCHAUFSCHLAG. Mit der Zeit extrahiert das Gedächtnis Worte aus diesem Tohuwabohu und sucht einen sinnstiftenden Zusammenhang zwischen gefundenen Begriffen wie Kopf, fällt, ab, abrücken, Bruch, auf, Schlag, Schlagkopf, Aufschlag oder Brückenbruch. Eine Geschichte entspinnt sich langsam und findet in dem Kriegsrelikt Flakturm Bilder aus einem Schwarzweißfilm.

Auf der gegenüberliegenden Stirnwand erkennt man hinter einer Plastikfolie verborgen eine komplementäre Textarbeit zu der eben entzifferten. Wiederum muss der Betrachter seinen Standort ändern, um den Text durch einen erneuten Zwischenraum hindurch visuell erfassen zu können und er erkennt, dass es sich um dieselbe Buchstabenfolge handelt. Und langsam sickert die Erkenntnis durch, dass Bogner hier zwei ähnliche Raumsituationen geschaffen hat, die sie durch unterschiedliche Methoden der Zensur – materialiserte schwarze Balken und großflächige Verschleierung – verunklärt. Sie hat an diesem geschichtsträchtigen Ort einen Kontext aufgespannt, der einen bruchstückhaften Satz (eine schlecht transmittierte Meldung?) mit einem Gefechtssturm verbindet, eine Plane des Schweigens mit Entschlüsselung, Zeitgeschichte mit Zensur und Perspektivenwechsel mit Erkenntnis.

Fungiert der Zwischenraum in dieser Arbeit als Movens für einen Wechsel des Standpunktes, so ist er konstituierendes Element der Werke „Ohne Titel“ (2008) und „de.re.struct“ (2009). Die beiden Rauminterventionen umschreiben mit dünnen Gummischläuchen Skulpturen, die nur optisch erlebbar sind und als Umrisse theoretisch und ideell existierender Körper gelten können, deren volumetrische Inhalte mit der Leere gleichgesetzt werden können.

„Ohne Titel“ (2008) war eine Installation im Rahmen der Ausstellung „Die Zelle“ im ehemaligen Wassergüteamt im 22. Wiener Gemeindebezirk, das kurz danach abgerissen wurde. Jeder Künstler/jede Künstlerin erhielt einen Raum, in dem er/sie vor Ort eine Arbeit zum Thema „Zelle“ anfertigen sollte. Bogner hat in assoziativer Relation zur Funktion des Gebäudes mit Hochdruckschläuchen gearbeitet und diese mit Hilfe von Spannschlössern zu Quadern verspannt. Parallel zum Fenster und in aufsteigender, serieller Abfolge hat sie geometrische Körper konturiert, ihre Umrisse in den Raum gezeichnet, ohne jedoch ihr Volumen durch ummantelnde Flächen abzubilden. Entstanden ist eine ephemere Treppenkonstruktion, die geradewegs zum Fenster führte und damit einen Weg aus der Zelle heraus aufzeigte.

Die Arbeit „de.re.struct“ (2009) ist anlässlich Bogners Einzelausstellung in der gegnergallery in Wien entstanden. In den nur ungefähr 4,5 x 2,5 m großen Ausstellungsraum hat sie die Konturen einer dynamischen Form eingeschrieben, die nur aus Kanten und Luft zu bestehen schien. Rechts neben dem Eingang beginnend zog sie die Eckpunkte eines Quadrats mit ihren Gummischläuchen vom Fußboden auf die rechte Wand, dann höher auf die linke Wand, um wieder auf den Fußboden zurückzustürzen und im selben Muster den Raum erneut nach hinten zu durchmessen. Bogner definiert präzise volumetrische Formen im realen Raum, verzichtet aber auf die Masse eines ummantelten Objekts. Das Volumen dieser Figuren ist visuell erfahrbar, bleibt jedoch eine imaginierte Größe, denn die Skulptur ist offen und zeigt wie im Aufriss einen denkbaren Körper im Raum, der vorstellbar, aber nicht greifbar ist.

Dass sie das spannungsreiche Wechselspiel von Körper und Leere, Oberfläche und Kontur und Raum im Raum beherrscht, zeigt Bogners Arbeit „Zwischenraum“. Im Kunstverein das weisse haus in Wien hat sie in der Mitte des Ausstellungsraums einen ein Meter hohen und 3,50 x 3,20 m großen Kubus aufgestellt und ein identes Gegenstück darüber an der Decke montiert. In einem ersten Schritt wurden nur die beiden Holzkonstruktionen der Körper ausgestellt, die sich auf die Kanten zur Beschreibung des Quaders beschränkten. In einem zweiten Schritt wurde der obere Kubus mit schwarzem Stoff eingehüllt, im einem nächsten der untere Kubus und in einer letzten Phase schlussendlich hat ihre Künstlerkollegin Christina Boula den gesamten Umraum schwarz ausgestaltet.

So, wie die Künstlerin ihre Installation dreimal modifiziert hat, so ist auch der Zwischenraum, den diese Arbeit bereits im Titel trägt, ein dreifacher. Es ist zunächst der Leerraum zwischen den einzelnen Elementen des Holzgerüsts, dann die Fuge zwischen den beiden Kuben und schließlich der Raum zwischen den Kuben und dem Umraum.

Durch die Bespannung der Oberflächen wurden die beiden Raumgerüste als Körper erfahrbar und vor allem der Zwischenraum zwischen ihnen betont. Zugleich wurden die Betrachter durch die nun manifesten Volumina mit einer gewissen Einschränkung ihres zuvor weitgehend unbeeinträchtigten Raumempfindens konfrontiert und des Raums im Raum gewahr. „Zwischen den Räumen stehen“[7] hat Bogner ihre Werkbeschreibung überschrieben und es geht ihr genau um jenes Gewahrwerden der Räume, um jenes differenzierte Wahrnehmen und Erleben von Freiräumen und ein immer wieder neues Sich-Selbst-Verorten.

Ein Zwischenraum bezeichnet jedoch nicht nur eine räumliche Zone, sondern umfasst auch eine zeitliche Dimension, als Intervall zwischen zwei Augenblicken. Der Aspekt der Zeit ist nicht unwesentlich für Bogners Arbeiten. Zum einen gewinnt Zeit für den Betrachter in der Begegnung mit ihrem Werk durch das Herumgehen, Annähern und Verorten eine eigene Qualität, im Sinne einer Zeitdehnung und Zeitverdichtung, die eine Konzentration auf das Hier und Jetzt bewirken. Zum anderen wird Zeit in einer Arbeit wie „Zwischenraum“, in der eine Konstellation über die Ausstellungsdauer verändert wird, ganz konkret über die Wandlung des Objekts erfahrbar.

Die beiden Objekte „Ohne Titel“ (2010) und „Eidolon“ (2011) schlagen nochmals einen Bogen zum „zu-gedachten Raum“, in dem die Motive des Zwischenraums, der Lichtregie und der Schwelle bereits ausgeformt sind. Das unbetitelte Lichtobjekt aus dem Jahr 2010 spielt mit seiner zackigen Acrylglasfront auf das Wagnis an, sich auf Zwischenräume einzulassen und „Eidolon“ greift nochmals das Motiv des Durchganges im Sinne eines Tores oder eines Türsturzes auf, nur dass sich die dreifache Rahmenform nicht zu einer Passage hin weiterentwickelt, sondern in einer Torsion nach oben hin verjüngt.

 

Der (post)minimalistische Raum

Die eben besprochenen Arbeiten von Anna-Maria Bogner sind tief in der Kunst der 1960er Jahre verwurzelt und beziehen ihr Vokabular aus einer (post)minimalistischen Tradition, auf die sie in Aneignung, Widerspruch oder Fortführung reagieren. Es waren die Werke der Minimal Art, die eine neue Beziehung zwischen dem Objekt und dem Raum und zwischen dem Objekt und dem Betrachter ermöglicht haben. Robert Morris hob in seinen Schriften wie auch in Erläuterungen seiner Arbeiten immer wieder die trianguläre Beziehung zwischen Objekt, Raum und Betrachter hervor. Dan Flavin war wohl der erste, der zugunsten des Environments auf Objekte verzichtete und eine Neudefinition des architektonischen Raums ohne Rückgriff auf Objekte anstrebte. Bruce Nauman hat den Zwischenraum sichtbar gemacht, indem er den Leerraum unterhalb seines Stuhles ausgegossen hat („A Cast of the Space under My Chair“, 1968). Er war einer der wichtigen Vorreiter für Fred Sandback, der mit wenigen, handelsüblichen Schnüren Räume völlig veränderte, sie geradezu neu konstituierte.

Bereits 1966 hat Kynaston McShine in seiner Einführung zur Ausstellung „Primary Structures“ wegweisend geschrieben: „Einfachheit in der Struktur ermöglicht ein Maximum an Konzentration und Intensität und impliziert nicht zwingenderweise Belanglosigkeit; tatsächlich konnotiert sie eigentlich eine reiche Komplexität an formalen Beziehungen und Erfahrungen.“[8] Es ist diese Einfachheit in den Mitteln und Strukturen, die in den 1960er Jahren ihren Ausgang nahm und die auch das Werk von Anna-Maria Bogner charakterisiert. Arbeiten wie „de.re.struct“ oder „Zwischenraum“ verknüpfen auf intelligente Art und Weise Werkansätze von Bill Bollinger, Robert Grosvenor, Robert Morris und Fred Sandback und überführen sie ins 21. Jahrhundert. Grosvenor, der für seine dynamischen, raumgreifenden Skulpturen berühmt geworden ist, hat 1966 gemeint: „Ich möchte nicht, dass man von meinem Werk als ‘großer Skulptur’ denkt; es sind Ideen, die im Raum zwischen Boden und Decke wirksam werden. Sie überbrücken eine Leerstelle.“[9] Dies gilt ebenso für die Arbeiten von Bogner. Wenn sie ihre Hochdruckschläuche in den Raum einspannt oder in ihren Zeichnungen Raumszenarien entwirft, deren Charakter sie nur mit wenigen Linien verändert, trifft auf sie zu, was die legendäre Kunstkritikerin Roberta Smith 1976 über die Arbeiten von Fred Sandback geschrieben hat, dass „es schwierig sei, sich immer auf die Linien selbst zu konzentrieren und es ironischerweise leichter ist, die unsichtbaren Flächen zu ‘sehen’, die sie definieren“.[10]

 

Der Imaginationsraum

Die Linie hat sich in den 1960er Jahren vom zweidimensionalen Zeichengrund emanzipiert und ist in den Realraum hineingetreten. Künstler wie Fred Sandback haben eine spezifische skulpturale Tradition erweitert, die Julio González (in einem Picasso gewidmeten Text) 1936 als eine Form des „Zeichnens im Raum“ beschrieben hat.[11] Die Entmaterialisierung des Kunstwerks hat gewissermaßen eine Materialisierung der Linie nach sich gezogen. Trotz dieser fundamentalen Umbrüche blieb der Zeichnung ihre wesensmäßige Bestimmung durch die Linie erhalten.

Die Zeichnungen Anna-Maria Bogners, sowohl im Raum als auch auf dem Papier, konstituieren sich durch wenige klare Linien und falten Raum als Möglichkeitsfeld originärer Erfahrungen auf. All ihren Zeichnungen gemein ist die Folie eines zentralperspektivischen Schachtelraums, in den sie ihre Interventionen einschreibt. Sie projektieren Darstellungen linearer Gebilde, Grenzlinien imaginierter Raumkörper oder die Reduzierung eines Körpers im Raum auf seine grafische Substanz, auf einen minimalen Informationsgehalt. Als Betrachter wird man mit den Ambivalenzen der Wiedergabe dreidimensionaler Räumlichkeit auf einem zweidimensionalen Bildträger konfrontiert. Man vermag nicht genau einzuschätzen, ob eine Linie entlang des Bodens und der Wände verläuft oder in den Raum hineinragt [2. Zeichnung, 50 x 60 cm]. Ob sie schwere Volumen bezeichnet oder feine Lineamente [5. Zeichnung, 74 x 34 cm und 11. Zeichnung, 34 x 34 cm]. Oder ob sie überhaupt als Form realisierbar ist [1. Zeichnung 120 x 150 cm und 4. Zeichnung 74 x 34 cm].

Für Bogner repräsentiert „jede Zeichnungen einen Gedanken zum Raum“.[12] Manche formulieren Objekte, manche skizzieren Installationen, einige notieren Ideen, andere erträumen Erweiterungen. Einige Projektzeichnungen sind so konkret ausgeführt, dass man sie jederzeit in die Realität umsetzen könnte, andere scheinen bereits umgesetzt worden zu sein ([die 10. Zeichnung] erinnert zum Beispiel an die Installation im Wassergüteamt), wieder andere tragen den Keim des Utopischen in sich. Die Formate der Zeichnungen werden seit kurzem immer größer (bis zu 190 x 320 cm) und erwecken den Eindruck, dass man in den dargestellten Raum geradezu eintreten kann. Auch hier wird wieder der unmittelbare Körperbezug ihrer Arbeiten sichtbar.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bogners Zeichnungen ein Nachdenken über den Raum und den Menschen darin bzw. das Nachdenken über die Art der Interaktion zwischen beiden zeigen. Das Medium der Zeichnung dient ihr als Versuchsanordnung und Ausgangsbasis für ihr gesamtes Schaffen. In diesem geht es ihr nicht um das Vermessen von Raum, sondern um das Erfahren des Wesens von Raum anhand seiner konstituierenden Grundelemente. Dem französischen Philosophen Alain Badiou zufolge, der die Aufgabe der Kunst darin sieht, das Unsagbare zu sagen und das Inexistente auszudrücken, liegt eine Zeichnung dann vor, „wenn eine ortlose Spur eine leere Oberfläche zu ihrem Ort macht“.[13] Anna-Maria Bogner trachtet danach, diese Orte in den Realraum zu übersetzen.

 

Roman Grabner, 2011

 

[1] Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main 1977.
[2] Vgl. Melitta Kliege, Situationen der Verunsicherung. Bruce Naumans Werke der siebziger Jahre. In: Bruce Nauman. Versuchsanordnungen. Werke 1965-1994. Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle. Hamburg 1998, 47-58, hier 56.
[3] Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main 1977, 180.
[4] Martina Löw, Raumsoziologie. Frankfurt/Main 2001.
[5] Ebda, 198f.
[6] Ebda, 224.
[7] Anna-Maria Bogner, Beschreibungstext der Arbeit. Zitiert nach: http://www.ambogner.com/installations.php?pid=12&img=1. 1. November 2011.
[8] „Simplicity in structure allows for maximum concentration and intensity, and does not necessarily imply vacuity; it usually, in fact, connotes a rich complexity of formal relationship and of experience.“ Kynaston McShine, Einführung zu Primary Structures: Younger American and British Sculptors. Ausst. Kat. The Jewish Museum, New York. New York 1966, o.S.
[9] „I don’t want my work to be thougth of as ‘large sculpture’, they are ideas which operate in the space between the floor and ceiling. They bridge a gap.“ Robert Grosvenor, Statement in: Primary Structures: Younger American and British Sculptors: Ausst. Kat. Jewish Museum New York. New York 1966, o.S.
[10] Roberta Smith. Zitiert nach: Phyllis Tuchman, Fred Sandback. In: Fred Sandback. Sculpture. Ausst. Kat. Yale University Art Gallery 1989. New Haven 1991, 36-37, 37.
[11] Julio González, Picasso sculpteur et les cathédrales. In: Cahiers d’Art, 1936, Nr. 6-7. In deutscher Übersetzung in: Julio Gonzalez. Plastik und Zeichnungen. Ausst. Kat. Städtische Kunsthalle Mannheim 1977. Mannheim 1977, o.S.
[12] Anna-Maria Bogner in einer Email an den Autor. November 2011.
[13] Alain Badiou, Art’s Imperative: Speaking the Unspeakable. 2006. Video des Vortrags abrufbar auf: http://www.lacan.com/badiou_tilton.html

 

 

 

 

Katalogbeitrag, Anna-Maria Bogner, 2011, VESCON

 
Roman Grabner, Kurator, Neue Galerie, Bruseum, Universalmuseum Joanneum, Graz, Austria
 
 

 
Text © Roman Grabner, 2011