Katia Huemer, 2019

 
Anna-Maria Bogner: Viel mal mehr

 
 

Wie viel mal mehr kann Raum sein? Man ist versucht, diese Frage zu stellen, wenn man mit Anna-Maria Bogners Kunst konfrontiert ist. Konsequent befragt die Künstlerin seit Jahren die möglichen Verhältnisse von Objekt, Raum und Körper und wird nicht müde, diese in ihren Arbeiten neu zu verhandeln. Formal reduziert, entfalten sich durch gezeichnete Linien, Seile oder Lichtstrahlen (wie zuletzt im Rahmen des Grazer Klanglicht-Festivals unter der Erzherzog-Johann-Brücke) Räume, die unsere Wahrnehmung herausfordern und die Beziehung zwischen Simplizität und Komplexität in Augenschein nehmen.

 
Mit dem Etikett „Konkrete Kunst“, das jene Kunstrichtung bezeichnet, die in ungegenständlicher Weise mathematische Ordnungssysteme und geometrische Strukturen sichtbar macht, lässt sich eine jüngere Generation von Künstlerinnen und Künstlern nur ungern versehen. Dennoch ist Anna-Maria Bogners Arbeitsweise jener der „Konkreten Kunst“ zumindest wesensverwandt: Das Kunstwerk wird vor der Ausführung rational geplant und nur mit klaren Bildelementen wie Linien, Fläche und Farbe entwickelt. Die Konstruktion ist klar, einfach und visuell überschaubar, die Technik auf strenge geometrische Handwerklichkeit und Präzision gerichtet, und die Materialien sind einfach und auf das Wesentliche reduziert. Allerdings wehrt sich Bogner zu Recht dagegen, ihre Kunst als „konkret“ zu verstehen. Der Grund dafür liegt in der Vehemenz, mit der „konkrete“ Künstler wie Theo van Doesburg oder Max Bill das Einbringen von Symbolik, eine individuelle künstlerische Handschrift oder jedwede Bildbedeutung, die über eine rein mathematische hinausgeht, ausgeschlossen hatten. „kunst ist klarheit, nicht aber mystisches mönchslatein, worunter jeder etwas anderes versteht“, wie Max Bill einmal betonte.
 

Von mystischem Mönchslatein ist Anna-Maria Bogner weit entfernt, jedoch bedient sich ihre Kunst der Tatsache, dass sich Realität für jede und jeden anders darstellt. Die rezeptive Wahrnehmung ihrer Werke – ob in installativer, gezeichneter oder gebauter Form – steht immer im Zentrum. Anna-Maria Bogners Kunstwerke sind keine allein für sich oder die Künstlerin selbst existierenden Objekte. Vielmehr stellt Bogner Situationen bereit, die von ihrer eigenen Person unabhängig sind. Im Gegensatz zu den Dogmen „Konkreter Kunst“ soll ihre nicht selbstbezogen sein; ihr Ziel als Künstlerin ist es, Fragestellungen unserer Gesellschaft durch die ideale Welt geometrischer Kunst zu reflektieren, indem sie mathematischen Momenten, die uns im alltäglichen Leben andauernd, doch meist unbemerkt begegnen, Sichtbarkeit verleiht.
 

Selbstverständlich wirken auch hier in der Rezeption visuelle und konzeptuelle Prozesse zusammen. Präzise am Papier durchgeplant, nimmt Anna-Maria Bogner ihren Ausgangspunkt in dem achteckigen Ausstellungsraum des Museums der Wahrnehmung. Wie ein Papier, das durch mehrmaliges Falten visuell geteilt wird, parzelliert sie die zur Verfügung stehende Wandfläche durch feine, direkt auf die Wand gezeichnete Linien, aus denen – als logischer nächster Schritt nach der Linie – Dreiecke und Rechtecke hervorgehen. Die Künstlerin erstellt ein zentralperspektivisches Raster der Architektur, indem sie aus den acht Teilen des Raums nochmal acht weitere und schließlich weitere acht hervorbringt. So verdoppelt sich der grundsätzlich bereits verwinkelte Museumsraum von der Mittellinie der Fensterkante aus Runde um Runde aufs Neue und wird förmlich viel mal mehr.
 

Das Vielzahl der Verbindungen erinnert dabei aber auch an jene Linien, die sich auf Spielfeldern oder -bretten finden, dort eine Ordnung kennzeichnen und Flächen und Räume in Zonen teilen, deren Bedeutung arbiträr und in die Regeln Eingeweihten vorbehalten ist. Bogners System der vervielfältigten Wandstücke, deren Summe sich jeweils durch Vier teilen lässt, lässt darüber hinaus auch an das Prinzip der Quaternitäten, also der Vierzahl denken, das C.G. Jung zufolge „Ordnungsschema par excellance“ ist, eine „archetypische Struktur des Göttlichen“ und somit dem Menschen angeborene Vorstellung, die die Idee von Vollständigkeit darstellt. Die Fähigkeit, für sich ein einigermaßen vollständiges Bild der Wirklichkeit zu erzeugen und sich in der Welt zu orientieren, fußt, so Jung, auf diesem „psychischen Orientierungssystem“.
 

Der perspektivische Aufbau, den Anna-Maria Bogner in der Wandzeichnung darstellt, setzt sich – wandläufig umgekehrt – in quer durch den Museumsraum gespannten Schnüren fort, die die linke Seite des Raumes dominieren. Die Mittelachse liegt, wie in der Wandzeichnung, auf Höhe der unteren Fensterachse, während das jeweilige Zentrum der verspannten Linien nicht zwangsläufig auf die Mitte der Wand gerichtet ist. Das Entschlüsseln der Systematik, die dieser Ordnung zugrunde liegt, fällt deutlich schwerer als bei der Wandzeichnung, auch dies Intention der Künstlerin. Mit simplen Mitteln hat Anna-Maria Bogner einen komplexen Raum geformt, der in uns Wahrnehmungsprozesse auslöst. Bogner fordert uns auf, den eigenen Körper als Werkzeug zu benutzen, um den Raum zu vermessen und individuell zu „begreifen“. So ist es, als bewege man sich durch ein Denkspiel, in dem jede und jeder auf andere Lösungen kommt.
 

Wie jede und jeder Einzelne die Welt wahrnimmt, ist schon aufgrund all unserer unterschiedlichen Dispositionen, Erinnerungen, Gefühle und Hintergründe sehr individuell. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass wir alle gerade das Gleiche sehen, fallen die Bewertungen dessen, was wir wahrnehmen, verschieden aus. Manche sehen vielleicht eine willkürliche Anordnung von Linien an der Wand, andere erkennen womöglich sofort den geometrisch-mathematischen Grundsatz, der dahintersteht, wieder andere nehmen unter Umständen etwas Gegenständliches wahr, das sich durch die präzise gesetzten Linien assoziativ abzeichnet. Der Kopf macht uns spontan ein Angebot und greift dabei auf bereits Gelerntes und Erfahrenes zurück. Nehmen wir ein Beispiel: Die Behauptungen „die Sonne wandert über den Himmel“ und „die Sonne bewegt sich nie“ können – jede für sich – der Wahrheit entsprechen, auch wenn sie eigentlich im Widerspruch stehen. Bedeutet dies nun, dass es unterschiedliche Welten gibt, in denen einmal die eine und einmal die andere Aussage zutrifft? Oder, dass mehrere Stränge, mehrere Versionen von Wahrheiten bestehen, die derselben Welt angehören?
 

Unser-Sonnen-Beispiel zeigt diametrale Positionen. Viel reichhaltiger und eindrücklicher aber ist die große Bandbreite an Versionen und Visionen in den Wissenschaften, in den Künsten und nicht zuletzt in unseren eigenen, individuellen Wahrnehmungen der Welt, die sich aus Informationen, Interessen, Erfahrungen, inneren Haltungen, etc. speisen. Natürlich lassen sich widersprüchliche Wahrheiten stets relativieren, indem man sich darauf einigt, dass jede Wahrheit unter gewissen Umständen die richtige sein kann. So gesehen lässt sich die Welt nicht beschreiben, sondern nur darstellen. Dennoch ist es wichtig, zu erkennen, dass uns unzählige andere Versionen umgeben, die ebenso wahrhaftig und bedeutungsvoll sind wie die eigene. Das Wissen um Pluralität missachtet keineswegs wissenschaftliche Erkenntnisse, die für die meisten Aspekte unseres Lebens Erklärungsmodelle anbieten. Vielmehr gelingt es den Pluralistinnen und Pluralisten unter uns, durch die Akzeptanz anderer Möglichkeiten die Sicht auf die Welt offen und unverstellt zu halten und Aspekte kennenzulernen, die womöglich zu Wahrnehmungserweiterungen führen.
 

Womit wir die Brücke zurück zu Anna-Maria Bogners Werk schlagen, denn es ist ihr großes Verdienst, Kunst zu schaffen, die freie Assoziationen nicht bloß zulässt, sondern zur rezeptiven Voraussetzung machen. Nüchterne Mathematik und subjektive Wahrnehmung sind für die Künstlerin kein Widerspruch, ebenso wenig wie konzeptuelle Schärfe und gesellschaftlich geprägte Interpretationen. Dieser Spielraum in ihren künstlerischen Arbeiten lässt sie von den Prinzipien der „Konkreten Kunst“ abweichen.
 

Besonders deutlich macht Anna-Maria Bogner diesen Zugang in der Fotografie, die sie an den Anfang des Ausstellungsrundgangs im MUWA gesetzt hat: Sie zeigt den rauen Felsen einer klassischen Berglandschaft, ein Motiv, an dem es leicht gelingt, anzuknüpfen; einen „Realraum“, wie wir ihn alle kennen. Diagonal durch das Bild zieht sich eine weiße Linie, die Bogner mit Schleifpapier erzeugt hat und die für Irritation sorgt. Ein Bruch durch die Erscheinungsform, die wir als gegeben verinnerlicht haben. Der Blick in die Landschaft löst sich in gleichem Maß auf wie der Museumsraum, den Bogner gefaltet und wieder entfaltet hat. Auch das Objekt aus weiß grundiertem Vierkantholz, das eine Säule umschließt, ist mittendurch gespalten. Seine Form deutet eine zerbrochene Endlosschleife an. Aus gewissen Winkeln betrachtet, fügen sich die zwei Teile der Skulptur wieder nahtlos zusammen. Fast könnte man meinen, Anna-Maria Bogner hätte uns als Betrachtende die Aufgabe zugedacht, den Bruch durch die Skulptur mittels Perspektivenwechsels zu heilen. Mit diesem einfachen Kniff führt uns die Künstlerin zu einer grundlegenden Erkenntnis: Durch jede Interaktion nehmen wir Einfluss auf die Existenz unserer Umwelt. Um Georg Simmels Soziologie der Sinne (1907) zu folgen, liegt der Grund, weshalb wir überhaupt in Wechselwirkung zueinander treten können, im Umstand, Objekte und uns gegenseitig sinnlich wahrnehmen zu können. Im Rückschluss bildet die Sinneswahrnehmung also die Grundlage, die eine Gesellschaft möglich macht.
 

Anna-Maria Bogners Arbeiten lassen sich am eindrücklichsten mit dem ganzen Körper erfassen. Eine Ausnahme stellt der zweidimensionale Bildträger dar, mit dem Bogner das „Faltmuster“ im Zentrum der Wand überlagert. Die Arbeit im langgestreckten Querformat 60 x 240 cm nimmt erneut Bezug auf die Umgebung, in der wir uns gerade befinden. Sie bildet einen Ruhepol, vor dem wir stehenbleiben und sich unsere Sinne erholen können. Mit dem für uns typischen Willen zur Kategorisierung betrachtet, handelt es sich zweifellos um eine Zeichnung, doch diese Arbeit will keine Zeichnung sein. Demzufolge enthält sie auch kein Bild, sondern Raum. Die Komponenten aus schwarzen und weißen Flächen aus Pastellkreide, durchzogen von dünnen Bleistiftlinien, fügen sich ineinander und löschen sich dabei gegenseitig aus. Weiß entsteht bekanntlich als Farbeindruck intensiven Lichteinfalls auf die Netzhaut, während als Schwarz jene Farbempfindung bezeichnet wird, die entsteht, wenn jeglicher visuelle Reiz fehlt. Die Reduktion der Arbeit auf die zwei Pole unserer Farb- und Lichtempfindung sowie auf einfache geometrische Formen ermöglicht – so absurd das klingen mag – im Zweidimensionalen die pure Veranschaulichung von Raum.
 

„Perception is subjective“, hielt Sol LeWitt 1969 in einem Artikel zur Konzeptkunst fest. Denn wie sehr wir uns auch drehen und wenden mögen, um einen anderen Blick auf die Welt zu erhaschen, wir kommen immer wieder zu uns selbst zurück, zu unserer Reaktion auf das, was wir erleben oder wie wir das Erlebte bewerten. Die Erkenntnis, dass der Geist über Materie herrscht, mag vielleicht wie eine spirituelle Überzeugung klingen, wurde inzwischen aber auch durch die Quantenphysik bestätigt. Unser Bewusstsein entscheidet darüber, was wir wahrzunehmen imstande sind und was nicht, denn die Welt, in der wir leben, entsteht in unseren Köpfen. Die stabilen Bahnungen in unseren Gehirnen, die sich im Laufe der Zeit durch Erfahrungen und Bewertungen mehr und mehr verfestigen, erleichtern uns den Alltag, indem sie uns mit Mustern versorgen, nach denen wir gewohntermaßen handeln und denken können. Und doch prägen uns jene Momente, die uns „aus der Bahn“ werfen, auf viel nachhaltigere Weise als die alltäglichen Routinen.
 

Mit Hilfe von Anna-Maria Bogners Kunst schaffen wir es, diese festgefahrenen Bahnen in uns ein Stückweit zu verlassen. Was uns die Künstlerin also mit ihren räumlichen Versuchsanordnungen sagen will? „Sie sehen das ganz richtig!“
 

 

 

 

Text zur Ausstellung  viel mal mehr | September 13, 2019 – February 28, 2020
 

Anna-Maria Bogner
 

MUWA – Museum der Wahrnehmung, Graz, Austria
 
 
 
Katia Huemer, Kuratorin, Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joanneum, Graz, Austria
 
Text © Katia Huemer, 2019