Helena Pereña, 2016

 

Hebt die zielstrebige gerade Linie die Form des abfallenden Bergrückens hervor? Oder verdeckt sie das Gelände? Die Linie besteht aus Leerraum. Sie ist im Negativverfahren entstanden, indem die Künstlerin das Material mittels Schleifpapier abgetragen hat. Dadurch ergibt sich ein Zwischenraum – ausgerechnet dort, wo eine der zwei wichtigsten Kompositionslinien dieses klassisch arrangierten Landschaftsbilds verläuft. Anna-Maria Bogner beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit verschiedenen Möglichkeiten der Raumerfahrung und vor allem derer Grenzen. In ihren präzisen und reduzierten Rauminstallationen betont sie durch leichte Verschiebungen des Raumgefüges die körperlichen Prozesse, die beim Erleben eines Raums in Gang gesetzt werden, auf ebenso subtile wie wirksame Art und Weise. Der Raum tritt dabei immer als gesellschaftliches Konstrukt auf, als sozialer Lebensraum mit sowohl impliziten als auch expliziten Vorgaben und Konventionen.

 

Die Naturaufnahmen, die als Ausgangspunkt für die mit dem Förderpreis prämierten, händisch bearbeiteten Fotografien dienen, sind nicht minder konventionell. Sowohl das gewählte Motiv als auch die Raumperspektive entsprechen einem herkömmlichen Bildaufbau. Indem Bogner eben diese Achsen hervorhebt, wird nicht nur der Blick geleitet, sondern auch ein Raum für die Betrachterinnen geschaffen – ein Raum, der durch das entfernte Material tatsächlich frei ist. Die Leerstellen erschweren zugleich je nach Arbeit mehr oder weniger die Raumerfassung und schalten das Vorstellungsvermögen ein. Im Wechselspiel zwischen Hervorheben und Verdecken sind diese Leerstellen ambivalent. Was fehlt? Wo habe ich schon etwas Ähnliches gesehen? Jeder Betrachter, jede Betrachterin wird sich hier mit eigenen, privaten Erinnerungen anders einbringen.

 

Dass die Leere bzw. das bewusst Fehlende im Mittelpunkt von Bogners Arbeiten steht, zeigt die wichtige Rolle sowohl der imaginierten Raumerfassung als auch des körperlichen Raumerlebnisses. Beide sind selbstverständlich individuelle Angelegenheiten. Daher verwundert es nicht, dass die Arbeiten „Ohne Titel“ sind. Denn sie bestehen ohne Beschreibung, ohne interpretative Vorgabe – ein Angebot für verschiedene Assoziationsräume. Der vorgestellte und der körperlich erlebbare Raum entpuppen sich im Werk von Anna-Maria Bogner stets als zwei Seiten einer Medaille. Auch ihre skulpturalen Objekte sind auf ein Gegenüber angelegt. Trotz der im Vergleich zu den filigranen Zeichnungen und Installationen mächtigeren materiellen Präsenz der Linie scheinen sie immer auf den dazwischenliegenden Leerraum zu verweisen. Damit tritt Bogner immer wieder in Dialog mit Positionen der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre: Bruce Nauman oder Michael Heizer werden spontan dazu notiert. Zugleich verdeutlicht ihre Auffassung des Raums als situationsabhängiger Ort einen sehr aktuellen Zugang.

 

 

Helena Pereña, 2016

 

 

Katalogbeitrag zum RLB Kunstpreis 2016, Innsbruck

 
 
 

 
Text © Helena Pereña, 2016